Niels Freverts neues Album heißt Pseudopoesie, und davon abgesehen, wie halluzinogendieses Wort aussieht, ist es natürlich bemerkenswert, dass gerade er, Frevert, Held allerLieddichter/innen deutscher Sprache, sein siebtes und schon wieder überraschendesAlbum Pseodopoesie nennt. Ist das Koketterie oder hat der `ne Krise? Und warum haut ernach seinem Prä-Covid-Erfolgsalbum Putzlicht schon wieder so einen Hammer raus?Fragen, auf die wir wahrscheinlich mal wieder keine befriedigenden Antwortenbekommen werden, denn N. Frevert ist nicht zu fassen.„Ich sing in einem Käfig, in dem der Algorithmus nicht greift“‚Fremd in der Welt’Es beginnt schon mit der Einordnung. Freverts Kollegen kriegt man alle easy zu greifen.Da ist Jochen, der Intellektuelle. Thees, der Kumpeltyp. Sven, der Romantiker mit denRomanen, und Gisbert, der aus der WG-Küche der Herzen. Bei Niels aber wird’s vage. Erwar schon immer der, der nirgendwo so richtig dazugehörte. Ein Einzelgänger,geheimnisvoll und etwas unnahbar. Ein Flaneur, der alle paar Jahre mit zwei Händenvoll Liedern aus der Versenkung erscheint, für Verzückung sorgt und wiederverschwindet in der Anonymität jener Großstadt, in der er seine Geschichten findet. EinMeister der stolzen Melancholie, bei dem Worte wie Einwegfeuerzeugstichflamme zurHook werden und jedes Lied der Welt einen Blick abgewinnt, einen Moment oder eineFormulierung, die man nicht mehr vergisst. Zu fein für’s Formatradio, zu verwirrend fürden Algorithmus.Der Bruch kam mit dem 2019 erschienenen Album Putzlicht. Mit dem erfand sichFrevert nach fünf Jahren Pause quasi neu, streifte das Korsett des Liedermachers ab.Plötzlich war alles größer und druckvoller, als hätten The War On Drugs seineSchreibklause gestürmt. Pseudopoesie knüpft da an und geht noch weiter – auch dankdes neuen Frevert-Produzenten Tim Tautorat (Faber, Provinz, Tristan Brusch).„Das Schwarze an deinem Handgelenk, ist das Kajal?“‚Waschbeckenrand’Bestes Beispiel für die Wandlung ist ‚Weite Landschaft’, der Opener und die erste Single.Es beginnt wie ein Frevert-Stück von früher, eine dieser aufrecht an der Liebeverzweifelnden Balladen – dann kippt’s, fällt auf die Füße und rennt los. ‚Fremd in derWelt’ (Frevert über Frevert?) ist ein Hit, ‚Waschbeckenrand’ eine Miniatur mituniverseller Wucht, wie sie nur Frevert schreiben kann, das umwerfende ‚Träume hörennicht auf bei Tagesanbruch’ eine radioheadsche Elegie auf die Sehnsucht, das „Klappernvon Geschirr’ die Fortsetzung von ‚Wind in deinem Haar’ von Putzlicht.Mehr denn je richtet sich sein Blick auf das Weitermachen hinter den Fenstern derGroßstadtwohnungen, in denen viele seiner Geschichten spielen – diesehochverdichteten Momentaufnahmen, in denen ganze Leben stecken. Freverts Liederfeuern nicht zum Durchhalten an, spenden keinen Trost und geben keinen Rat. Sie legensanft den Finger auf die Wunde, da wo Träume verkümmern und Herzen verhärten,schieben dich sachte zur Tür und lassen dich da stehen mit dem Schlüssel in der Hand.Das ist große, zuweilen fast schmerzhaft schöne Popmusik, die das Leben und dieMenschen ernst nimmt, aus Alltäglichkeiten das Drama unserer Existenz schält undneuerdings immer einen Ausweg bereithält: den radikalen Neuanfang, die Flucht in einneues Leben, so als Idee ...Warum jedoch das vielleicht schon wieder beste Niels-Frevert-Album aller Zeitenausgerechnet Pseudopoesie heißt, ist eine dieser Frevert-Fragen, mit der wir uns einenZopf drehen können. Ist es der dritte Teil einer P-Trilogie, die aus den Alben Paradiesder gefälschten Dinge, Putzlicht und Pseudopoesie besteht? Meint das Pseudo die Zweifeldes Dichters an seinen Texten? Oder ist es so eine Art Meta-Mittelfinger an denMainstream? Wie auch immer: Dieses an sich interessante Wort wirkt etwas deplatziertauf diesem Album, schmälert den Genuss desselben aber in keiner Weise.“Der Blick ist weit und die Sehnsucht groß /Und jeder Morgen ein neuer Versuch“‚Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch’Er sei „eigentlich auch ein ganz normaler alle dreieinhalb Jahre neues Album Typ“, sagter selber. Es sei denn, es gibt eine harte Krise, dann dauert es schon mal eine halbeDekade. Pseudopoesie erscheint 3,5 Jahre nach seinem Vorgänger – ein Hinweis.Außerdem wollte Frevert möglichst schnell wieder auf Tour. Und sein neuer ProduzentTim Tautorat ist auf Zack – verliert keine Zeit, liebt das Risiko und spieltStreicherarrangements einfach mal selbst ein. So kam es, dass Pseudopoesie in nur sechsWochen entstand – die kürzeste Albumproduktionsphase seit dem Frevert-Debüt von1997.Aufgenommen hat er die zehn neuen Lieder mit der Live-Besetzung von Putzlicht – daserste Mal, dass seine Band zwischen zwei Alben komplett zusammenbleibt. Niels Frevertscheint angekommen zu sein: zwischen den Stühlen, auf der äußeren Umlaufbahn odereinfach nur auf dem Weg zum ewigen Weiter. Versuche, ihn zu fassen und er lässt los,macht nen zweieinhalbfachen Salto unter der Zirkuskuppel ohne Netz, landet in seinemGlitzertrikot, singt dir das Herz auf und ist wieder weg.Tino Hanekamp